Auszug aus
2. Teil
Kriegsende in Leipzig
22. April 1945
Sprechen möchte ich mit Dir, als wärst Du mir ganz nahe. Liebster, möchte ich Dich anreden, mein Geliebter, tausend liebe Namen möchte ich Dir geben und mein Herz weit vor Dir ausbreiten. Doch dann kommt es mir zu Bewußtsein, wie weit Du von mir bist, viel weiter noch, als die räumliche Entfernung betragen mag, denn nicht einmal meine Worte können Dich erreichen, nicht einmal ein kleines Blatt Papier, das meine Hände berührten und mit ein paar Zeilen für Dich bedeckten, kann ich Dir schicken. Dann könnte ich mir doch vorstellen, wie Du meinen Brief erhältst, wie Deine Augen dabei aufleuchten und Du den Namen betrachtest, den meine Hand geschrieben. In Gedanken würde ich sehen, wie Du den Umschlag öffnest und Deine Lippen auf die Anrede drückst, dorthin, wo vorher mein Mund das Papier berührte.
Ach, Herbert, mein geliebter Herbert, es ist so schwer, auf diese Weise getrennt zu sein.
Nur meine Gedanken habe ich, die immer wieder zu Dir eilen, die Dich suchen immer und überall. Das Bewußtsein bleibt mir, daß auch Du so innig an mich denkst. Von der Erinnerung an die mit Dir verlebten, ach so kurzen, aber unendlich schönen Wochen lebe ich; jede Stunde, die wir mit einander verbracht haben, rufe ich mir ins Gedächtnis zurück, und jedes liebe Wort, das Du zu mir sprachst, lasse ich wieder lebendig werden. Über allem aber steht die Hoffnung, nein der Glaube an das Wiedersehen.
Du sollst wiederkommen, und wir wollen wieder mit einander leben. Und wir werden mit einander glücklich sein, auch wenn uns ein schweres Leben beschieden sein sollte. Unsere Liebe ist so groß und stark, daß sie alles Schwere überwinden wird.
Jetzt heißt es für mich, warten und tapfer sein. Ich fühle die Kraft dazu in mir, obwohl mir auch oft angst ist und das Herz ganz wund und weh.
Ich kann doch nicht so einfach alle Erlebnisse und Gedanken aufzeichnen, wie ich es plante. Drum habe ich schon einige Tage nichts geschrieben. Mal aber muß ich zu Dir sprechen, und wenn all die Sätze nur eines ausdrücken: Ich hab Dich lieb.
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Leipzig, am 22. Juni 1945
Mein lieber, lieber Herbert!
Welch unbeschreiblich große Freude trug uns heute Dein Brief ins Haus. Das Herz schien mir still zu stehen, als ich heute vormittag auf ein Klopfen die Tür öffnend draußen eine Frau vorfand, die einen Brief mit Deiner Handschrift wie ich sofort sah in der Hand hielt. Und dann o, lieber, liebster Herbert, nicht nach dem Abschied und nicht während der langen Wochen bangen Wartens, da mir manchmal das Herz vor Sorge und Trauer schwer war, habe ich so geweint, ja geschluchzt wie bei dieser Freudennachricht. Du mußt mich deshalb nicht schelten, ich fühle mich wie mein Mann tapfer und stark, aber alle Sorge, die ich gefühlt, alle Furcht, die ich um Dich empfunden, und der Druck der Ungewißheit über Dein Schicksal, der auf mir lastete, all das kam mit einem Mal zum Ausbruch und löste sich in Tränen.
Mein Geliebter lebt, mein Mann ist gesund! Welch unsagbares Glück empfand ich bei dieser Nachricht. Nun weiß ich, wo Du bist, nun haben meine Gedanken ein Ziel, wenn sie zu Dir eilen und sich den Deinen zugesellen wollen. Jetzt kann ich mir doch vorstellen, was Du am Tage treibst und tust. Ich sehe Dich bei der Arbeit über die Felder schreiten, ich sehe Dich in den Abendstunden oder am Sonntag in erbaulicher Unterhaltung mit dem Lehrer oder lausche mit Dir dem Klavierspiel des Herrn Stendel. Immer und in allem bin ich bei Dir und umgeben Dich in Liebe meine Gedanken. Fühlst Du es nicht, wie ich in Gedanken neben Euch herlaufe, wenn Du mit Deiner kleinen Freundin spazieren gehst? Und wie ich wie Du meine Freude an dem kleinen Mädel habe?
Aus Deinen Briefen spricht Mut und Zuversicht, Du läßt Dich nicht niederdrücken durch das schwere Schicksal unseres Volkes, dennoch siehst Du für uns eine Zukunft. O, Liebster, wie freue auch ich mich auf die Fortsetzung unseres gemeinsamen Lebens. Und ich weiß, wir werden glücklich sein; mag man von außen her auch Schweres und Dunkles in unsere Tage hineinzutragen versuchen, das Licht in unserem Inneren ist stärker und heller und wird unseren Lebensweg erleuchten.
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Eschwege, den 2. Juli 1945
Mein geliebter Zwilling,
noch habe ich den Klang Deiner so lieben Stimme im Ohr, noch gebe ich mich der Täuschung hin, mich nur durch ein Schließen und Wiederöffnen der Augen in Deine leibhaftige Gegenwart und Deine mir nun vertraute Umgebung versetzen zu können, da treten bereits wieder die Sorgen an mich heran und versuchen, mir meine durch die Leipzigfahrt gewonnene Ruhe zu nehmen. Warum habe ich auch nicht eindringlich darauf bestanden, Dich sofort mit mir zu nehmen? Du hättest doch Deine liebe Mutti nun nicht allein zurückgelassen! (denn Opa Oskar war aus der Gefangenschaft entlassen, heim gekommen) Seit gestern sind die Grenzen nach Thüringen geschlossen. Wir kamen gerade noch rechtzeitig heraus. D.h. ich bin der festen Überzeugung, daß man zu Fuß, wenn man den festen Willen hat, schon dahin kommt, wohin man will, trotz allem.
Die Anzeichen verdichten sich sehr, ich muß leider auch daran glauben, daß jetzt das eintritt, was wir fürchteten. (Einzug der Russen in Mitteldeutschland) Die Hauptsache ist nur, Du kommst noch gut aus der gefährdeten Zone heraus. Das einzig Richtige, auch wenn Du zu Herbert willst, ist jetzt, zuerst hierher zu kommen. Nördlich kannst Du von L. nun nicht mehr gehen. Ich hoffe so stark, daß auch Du das gleich erkennst.
Hilde, ich glaube so fest daran, Dich bald zu sehen oder wenigstens von Dir zu hören. Es darf doch nicht das letzte Mal für uns beide gewesen sein! Sollt ich denn nur deshalb das große Glück gehabt haben, Dich noch einmal zu sehen? Hilde, ich kann das nicht glauben. Du wirst kommen, und wenn Du dadurch alles an Hab und Gut verlierst. Herbert wird frei werden, und trotz allem werdet Ihr Euch Eure gemeinsame Zukunft bauen.
Hilde, ich habe mich täuschen lassen in den letzten Tagen und zuviel geträumt. Mutti und ich mit Euch in Eurem schönen Heim das wäre unausdenkbar schön gewesen. Aber wir haben wohl in dieser Zeit auch kein Recht auf ein klein wenig persönliches Glück.
Ich will aber nicht hadern; wenn ich Dir diese Zeilen in den nächsten Tagen oder überhaupt einmal persönlich in die Hände legen kann, würde ich mich zu den glücklichsten Menschen der Welt rechnen.
Eigentlich wollte ich Dir nur berichten, wie unsere Heimfahrt verlaufen ist. Sie ging wieder ohne jegliche Schwierigkeiten vor sich, und am Sonnabend nachmittag konnte ich hier unsere Mutti froh machen, die sich doch wieder übermäßig gesorgt hatte.