Buchrezension über den Briefroman Briefe Liebender im Zeichen der Zeit (1945-1954) von Hildegard Halpaap unter Mitarbeit von Karla Halpaap-Wood
verfasst von Lilian Grimm (M.A. Kommunikationswissenschaften)
Im August 1944, kurz nach der Landung der Alliierten in der Normandie, nimmt der Epistelroman Briefe Liebender im Zeichen der Zeit von Hildegard Halpaap seinen eigentlichen Lauf. Im Vorwort erläutert die Autorin und Hauptfigur Hilde die geschichtlichen und familiären Rahmenbedingungen, die für das Verständnis des dargelegten Briefwechsels notwendig sind. Die Personen, die ihr während des Krieges und in der Zeit danach am nächsten standen und mit denen der häufigste Briefwechsel stattfindet, sind ihre Mutter, ihre Zwillingsschwester Charlotte, auch Lolo genannt, und ihr Ehemann Herbert Halpaap, den sie inmitten der Kriegswirren unter Bomben und Feuersbrunst (S. 9) am 3. Februar 1945 heiratete. Hilde und Lolo verdienten sich ihren Lebensunterhalt und ihr Studium als Apothekerinnen, die ältere Schwester Anneliese widmete sich hauptsächlich ihrem Mann, dem Berufsoffizier Gerhard Feyerabend, und ihren Kindern. Der Tod von Hildes Vater im März 1940 bewirkte einen bedeutenden Einschnitt in das Familienleben, zumal dieses Ereignis vor allem Hildes Mutter völlig unvorbereitet traf. Nach der Hochzeit der Hauptfigur mit Herbert Halpaap, einem Pharmaziestudenten, der vom aktiven Kriegsdienst zunächst freigestellt war, zogen beide nach Leipzig zu den Schwiegereltern. Herbert beschloss letztendlich, sich doch zum Kriegsdienst zu melden, da er das untätige Warten auf ein ungewisses Kriegsende nicht ertragen konnte.
Bereits in den ersten Briefen Herberts aus dem Jahr 1944 an seine geliebte Hilde, die er nach seinem Abschied schrieb, wird dessen komplexe Gefühlswelt offenbart. Zum einen wird ein tiefes Gefühl von Sehnsucht nach seiner Frau deutlich, zum anderen aber auch die Liebe zum Vaterland, eine Überzeugung, für das einstehen und kämpfen zu müssen, was eigentlich nicht mehr zu retten ist. Herbert ist sich zwar seiner Ohnmacht und der Aussichtslosigkeit der Situation Deutschlands im Jahre 1944 durchaus bewusst, doch hätte er keinesfalls einer Niederlage Deutschlands tatenlos zusehen können. Die ersten Briefe von Hildegard spiegeln ebenso das sehr bewegte Innenleben einer Liebenden wieder. Hilde ist zwar einerseits überglücklich, vor allem immer dann, wenn sie eine Nachricht von ihrem Mann erhält. Sie scheint zutiefst zufrieden über ihre Beziehung und wirkt äußerst zuversichtlich in Bezug auf eine gemeinsame Zukunft. Doch werden diese positiven Emotionen letztendlich immer wieder durch die kriegsbedingten Schwierigkeiten getrübt. Die Kommunikation zwischen beiden gestaltete sich mehr und mehr als hindernisreich, zeitweise sogar als unmöglich. Die Telefonverbindungen brachen immer wieder zusammen, und ein reibungsloses Zustellen der Post war keinesfalls gewährleistet. Zudem war der genaue Aufenthaltsort Herberts für Hilde nicht immer zu ermitteln. Viele von Hildes Briefen wurden zum Teil nicht abgeschickt oder einfach ins Ungewisse hin verfasst. Diese Tatsachen lassen uns in der heutigen multimedial vernetzen Welt die technischen Fortschritte der Neuzeit schätzen, aber auch diejenigen Menschen bewundern, die damals trotz aller Schwierigkeiten und trotz der allgegenwärtigen Ungewissheit an ihren Gefühlen und an ihrer Hoffnung auf bessere Zeiten festhielten.
Beschäftigt sich der erste Teil des Buches mit dem Ende des II. Weltkrieges, so spielt sich der Briefwechsel des 2. Teils in der Zeit unmittelbar nach Kriegsende ab. Besonders bewegend sind in diesem Teil die geschilderten Überlebenskünste der Charaktere in diesen schwierigen Zeiten. Es wird durch die Briefwechsel Hildes mit ihrem Mann, aber auch mit ihrer Zwillingsschwester und Mutter, ein Gefühl der allgemeinen Enttäuschung vermittelt, Enttäuschung über die Kriegsniederlage, Enttäuschung und sogar Wut über das Versagen und das Nichteinhalten der Versprechungen Adolf Hitlers. Erstaunlich ist dennoch, wie sich die Charaktere unseres Romans, sicherlich beispielhaft für viele Deutsche in der Nachkriegszeit, dadurch nicht entmutigen ließen. Es entstanden gut organisierte Netzwerke der Hilfe und Gegenhilfe, in denen jeder, der auch noch so wenig zu bieten hatte, sein Hab und Gut teilte. So dankt Hilde in ihrem Brief vom 13. Juni 1945 ihrer Mutter und Lolo überschwänglich das Übersenden eines Päckchens mit Kartoffeln und Speck, wohlwissend, dass die eigene Situation der Mutter und Schwester ein großzügiges Spenden von Nahrungsmitteln eigentlich kaum erlaubte (S. 55). Ergreifend sind auch die geschilderten Unternehmungen Hildes, ihren Mann in Kriegsgefangenschaft im Juli 1945 zu besuchen. (S. 77) Die ständige Angst, von Polizei oder Militär erwischt zu werden, schränkte den Mut und die Entschlossenheit Hildes keinesfalls ein; diese Bedrohungen spornten sie eher noch dazu an, weite Fußwege, das Übernachten in einer Scheune und sonstige Qualen auf sich zu nehmen, nur um ihr Ziel zu erreichen.
Der 3. Teil des Romans beginnt mit Herberts Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft und der Übersiedlung nach Westdeutschland mit seiner Frau. Bezeichnend bei dieser Episode ist, dass Hilde in einem Zwischenwort angibt, die meisten Einzelheiten des Übergangs nach Westdeutschland vergessen zu haben. Die Erwähnung eines langen Fußmarsches durch einen Wald und die Tatsache, dass Hilde mit ihrem Mann hierbei von einer russischen Patrouille überfallen wurden (S. 95), lassen aber darauf schließen, dass es sich um ein sehr unangenehmes, vielleicht sogar traumatisches Erlebnis in ihrem Leben handelte. Psychologisch betrachtet könnte man in diesem Fall von angewandten Verdrängungsmechanismen sprechen, die das Vergessen der Details begründen würden. Sigmund Freud beschreibt die Verdrängung als Abwehrmechanismus, unliebsame Gedanken können demnach alltäglich verdrängt werden. Verdrängung ist ein Phänomen, was mittlerweile auch neurobiologisch erforscht wurde. So veröffentlichte Michael Anderson 2001 in einem Beitrag in "Nature" eine Studie unter dem Titel "Suppressing Unwanted Memories by Executive Control" (Nature, Bd. 410, S. 366, Ausgabe vom 15. März 2001). Sicherlich bot die Liebe zu ihrem Mann Hilde auch stetig einen Halt, der ihr bei der Bewältigung von negativen Erlebnissen half. Sehr erfrischend wirkt auch die Tatsache, dass trotz des sicherlich unschönen Überfalls durch die russische Patrouille, sich Hilde und ihr Mann nicht ihren Humor verderben ließen. So stellten sich beide im Nachhinein unter Gelächter vor, dass der russische Soldat, der einen braunen Schlafanzug aus Herberts Koffer erbeutete, diesen wohlmöglich als Ausgehanzug benutzen würde. Hildes Schwierigkeiten beim Erhalten einer Aufenthaltsgenehmigung für Braunschweig, wo Herbert bereits die TH besuchte, bedingten eine erneute Trennung von ihrem Ehemann; sie blieb zu dieser Zeit in Eschwege mir ihrer Zwillingsschwester zurück. Bezeichnenderweise kann Hilde auch hierbei nicht mehr die genauen Umstände rekonstruieren. Sie gibt an, nicht mehr genau zu wissen, wie und wann sie ihre Genehmigung für einen Aufenthalt in Braunschweig erhielt (S. 116). Dies lässt uns wiederum darauf schließen, dass es sich auch dabei um sehr schwere Zeiten für Hilde handelte, Zeiten, in denen Glück auf Trauer folgten und in der viele Menschen mit ständiger Unsicherheit und den ärgsten Existenzängsten zu kämpfen hatten. Sicherlich half Hilde auch die Freude über die Geburt ihrer ersten Tochter Irmlind am 30. November 1946 viele unliebsamen Gedanken zu vergessen. Inmitten der beschriebenen trostlosen Nachkriegszeit, in der Menschen in ungeheizten Wohnungen ausharren mussten und in der das Tauschen von Lebensmitteln und Lebensmittelmarken als einzige Überlebensstrategie galt, erscheint das Gründen und Ernähren einer Familie schier unmöglich. Die Geburten der Kinder Irmlind, Karla und Reinhard tauchen somit angesichts der äußeren Umstände fast wie ein Wunder auf.
Immer wieder deutlich wird der Kampfesgeist Hildes, um ihre Familie emotional aber auch materiell zu stützen. Da sie nach ihrem Umzug nach Braunschweig keine Anstellung fand, nahm sie am 1. Juli 1950 eine Stelle als Apothekerin in Nörten-Hardenberg an, was eine erneute Trennung von ihrem Mann, aber auch von ihren Kindern bedingte. Ihre Schwiegereltern kümmerten sich in dieser Zeit um Irmlind und Karla, der erst ein-jährige Reinhard wurde durch Hildes ältere Schwester Anneliese betreut. Über diesen familiären Zusammenhalt und die Bereitschaft der Angehörigen, sie bei der Kindesversorgung zu entlasten, war Hilde auch rückblickend überaus dankbar. Sie gibt im Vorwort des 4. Teils sogar Anzeichen eines schlechten Gewissens preis, da sie im Nachhinein meint, ihrer Familie damit zuviel zugemutet zu haben (S. 255). Dennoch wirkt die damalige Entschlossenheit der Menschen, trotz aller Hindernisse Familien zu gründen und aufrecht zu erhalten gerade im heutigen Deutschland, in dem trotz des allgemeinen Wohlstandes Jahr für Jahr einen Rückgang der Geburtenraten verzeichnet wird, geradezu als beispielhaft. Weitere Zeiten der Entbehrung folgten für Hilde, als sie im Sommer zu einer Apotheke in Schöppenstedt wechselte, in der sie nur kurze Zeit blieb, um dann ihre Tätigkeit in Salzgitter-Lebenstedt aufzunehmen, für die sie täglich mühsame und hindernisreiche Pendelfahrten hin- und zurück in Kauf nehmen musste (5. Teil). Zuletzt übte sie den Beruf der Apothekerin in Königslutter aus, bevor sie dann durch einen Stellenwechsel ihres Mannes im Jahre 1954 nach Darmstadt umzog, wo sie dann ihre beruflichen Ziele zurücksteckte, um sich voll und ganz ihrer Familie zu widmen (6. Teil).
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass der Briefroman Briefe Liebender im Zeichen der Zeit eine Reise ins Innere einer Familie während der Nachkriegszeit darstellt. Die äußeren Konflikte und die hindernisreichen Unternehmungen, den Lebensunterhalt sicher zu stellen und sich eine Zukunft aufzubauen, bilden die Kulisse für dieses einmalige Erlebnis, in dessen Bann sicherlich nicht nur Zeitzeugen, sondern auch jüngere Generationen gezogen werden. Die Hauptfigur Hilde beweist, dass es auch schon während der entbehrungsreichen Nachkriegszeit nicht einfach war, als Frau Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, aber dass es dennoch möglich ist, solange man dafür kämpft und solange man den Glauben daran nicht verliert.